top of page
  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Das Skelett der Hörigkeit

Updated: Feb 16, 2021


SKIZZE von meiner ersten Pragreise, auf der ich in einer Schule übernachtet habe, der der Geist ausgetrieben wurde.

Meine Unterkunft in Prag war eine zum Hostel umgebaute, oder besser umfunktionierte Schule, denn wirkliche bauliche Änderungen waren nicht vorgenommen worden. Die Schlafsäle waren ehemalige Klassenzimmer, aus denen sämtliche Stühle und Pulte entfernt worden waren. Ihren Platz nahmen bunte Gitterroste ein, an deren Ecken Eisenfüsse angeschweisst worden waren und die nun, mit einer harten Matratze belegt, als Betten dienten. Zuvorderst im Schlafsaal hing noch immer eine Wandtafel, die vollgekritzelt war mit mathematischen Formeln.

Es erstaunte mich, dass niemand sie mit obszönen Sprüchen oder pseudopolitischen Parolen versehen hatte. Möglich, dass die vom blinden Autoritätsglauben geprägte Grundschulhaltung irgendwie in diesen Räumen konserviert worden war, auch wenn sie sich ein ständiges Rückzugsgefecht lieferte mit dem neuen Geist, der von Autorität nicht viel hielt und für viele Gäste hier in diesen Tagen nicht nur ein Grund für den Besuch des Hostels, sondern dieser Stadt war. Schlafen, rauchen, saufen (vor allem das zu unglaublich günstigen Preisen), alles war hier erlaubt, so dass selbst die (in diesem Alter ohnehin seltenen) rebellischen Schüler keinen wirklichen Gedanken an Aufstand und den Ausdruck dieser Rebellion in Form von Obszönitäten auf Schiefer verspürten. Die Herberge war nur noch das Skelett einer wirklichen Grundschule.

Folgte man den linoleumbelegten Fussböden (die mich zumindest in den ersten Tagen so sehr an Krankenhäuser und meine ehemalige Schule erinnerten, dass ich mich bemühen musste, nicht in betont korrekter Körperhaltung auf ihnen entlang zu schreiten) und Treppen von den Schlafräumen hinunter ins Erdgeschoss, gelangte man zum Empfangsschalter des Hostels, wo eine junge Frau in grellem Neonlicht fast ersoff – überhaupt war man in diesem Haus im Umgang mit Neonröhren äusserst leichtfertig, was das Einzige war, das ich wirklich beanstanden konnte. Die Frau hatte ihre Augen und Lippen mit Schminke nachgezeichnet, als fürchte sie, sie könnten übersehen oder vergessen werden. In diesem Licht schien ihr Gesicht auf drei Flecken und die dunklen Höhlen ihrer Nasenlöcher reduziert; zuweilen konnte man sich des des Eindrucks nicht erwehren, dass die Flecken irgendwo in der Luft zwischen den Trägern ihres Kleides und ihrem Haar schwebten.

Trat die Frau aber einmal aus dieser Grelligkeit heraus, etwa, um mir im zum Bistro umfunktionierten Raum nebenan einen Whiskey zu verkaufen, wirkte sie eigentlich recht schön… tatsächlich trank ich öfters mehr Whiskey, als mir recht war, nur um mit ihr im Gespräch bleiben zu können.

6 views0 comments

Recent Posts

See All
bottom of page