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  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Die Verwendung des Plurals als Verzweiflungstat

Updated: Feb 16, 2021


KURZGESCHICHTE, in der keine Körperflüssigkeiten herumspritzen, aber dafür Fett, obwohl Körperflüssigkeiten passender wären, wenn man damit primär Augensekrete meint.

Um diese Zeit war der Laden gewöhnlich voll, zumindest für diejenigen, die den Fehler machten, nicht allein unterwegs zu sein. Ich schaute mich um, ich hatte die Wahl und stellte mein Tablett schliesslich auf einer schmalen Theke ab, zwischen Menschen, denen ich keine Beachtung schenkte.

Ich schob mir einen Hocker heran, setzte mich und begann zu essen. Beim ersten Biss in den Burger spritzte Fett in hohem Bogen hervor. Meine Augen folgten unwillkürlich der Flugbahn, doch als sie auf den Mann neben mir trafen, prallten sie ab und wanderten zurück auf die überbordende Buntheit der Burgerverpackung.

Er hatte eine Mütze getragen.

Die ersten Bisse schlang ich in grossen Brocken herunter, ich kannte den Geschmack zu gut, der sich beiläufig in meiner Mundhöhle einstellte, als dass es sich gelohnt hätte, allzu viel Zeit auf das Kauen zu verwenden. Schliesslich war diese Vertrautheit der Grund, weshalb ich hierher kam: man durfte damit rechnen, einigermassen rasch bedient zu werden, einigermassen satt zu werden, einigermassen bald wieder gehen zu können. Man musste mit keinen Überraschungen rechnen. Ich war ein behäbiger Mensch, ich mochte nicht müssen.

Deshalb fand ich mich auch empfindlich gestört, als sich mir von rechts eine spitze Stimme ins Ohr zu bohren begann. Das Mädchen, dem die Stimme gehörte, beklagte sich in einem hemmungslos um Aufmerksamkeit heischenden Teenagerton über seinen Freund (ein Name, den ich jedes Mal wieder vergessen hatte, sobald sie ihn aussprach), über dessen Rücksichtslosigkeit, in ihrer Anwesenheit dauernd Thai mit seinen Eltern zu sprechen, obwohl er genau wisse, dass sie kein Wort verstehe, und...

Es lag weniger an dem, was sie sagte, als an der Art, wie sie sprach – sie dehnte die hellen Vokale am Satzende ins Unermessliche und peitschte die Tonlage dabei allmählich in Schwindel erregende Höhen, ich nehme an, es sollte Mitleid erregen – jedenfalls wohnte ihren Worten etwas unglaublich Zwingendes inne, und da ich unter Druck schon immer schnell nachgegeben hatte, schaute ich mir sie an: ihre Jeanshose, über deren Saum ihr Beckenknochen blass glänzte, den verschwenderischen Fellbesatz ihrer Kapuze, den Jungen an ihrer Seite, der jünger wirkte als sie, wie es in diesen Jahren bei Gleichaltrigen oft der Fall ist. Er gefiel mir in seiner unbeholfenen Aufrichtigkeit, seine Augen, denen jeder, mit Ausnahme dieses Mädchen, ansehen konnte, wie unheimlich verknallt er in sie war, während er wortlos da sass, seinen Blick im Profil ihres Gesichtes vergraben, das beim Sprechen starr auf die Wand vor sich gerichtet blieb.

Als wäre es als Kommentar zu diesem Bild gemeint, erklang unvermittelt ein Geräusch, das im ersten Moment wie ein gerundetes, weit ausholendes Seufzen wirkte, aber noch im selben Atemzug zu einem vertrockneten Lachen zusammenschrumpfte... Was immer es auch gewesen sein mochte, es war von links gekommen, von unter dieser Mütze, und ich wagte einen Blick aus dem Augenwinkel. Der Mann sass in unveränderter Haltung da, die Ellbogen auf dem Tresen aufgestützt, die verschränkten Hände vor dem Mund, ein leichtes Zittern durchfuhr seinen Körper. Im Schatten der Mütze war sein Gesicht nicht vollständig zu erkennen, aber sein Blick schien aus dem Fenster zu fallen, hinunter auf eine Kreuzung im Halbdunkeln. Ich wollte wissen, ob der Anlass für dieses Geräusch dort unten zu finden war, doch ich schaute nur kurz hin – es mag merkwürdig klingen, aber ich spürte deutlich, dass dies seine Kreuzung war, und dass es mir nicht zustand, sie ihm wegzunehmen.

Also wandte ich mich wieder ab und kaute träge auf den Resten des Burgers herum, um Gleichmässigkeit im Mahlen und Schneiden meiner Zähne bemüht... zu meiner Irritierung wollte sie sich nicht einstellen, und ich fand mich plötzlich dankbar für die Ablenkung, welche die Stimme des Mädchens bot.

Seine Erzählung war bei einer Geburtstagsfeier angelangt, der Geburtstagsfeier ihres Freundes, zu der sie alleine hingegangen sei, letzte Woche, auch wenn sie niemanden dort gekannt habe, abgesehen von ihrem Freund und dessen Eltern, und ihr Freund habe sie den ganzen Abend ignoriert und Thai gesprochen, sie sei sich so schmerzhaft ausgegrenzt vorgekommen, und der einzige Mensch, der sich wirklich mit ihr unterhalten habe, sei der Vater ihres Freundes gewesen, und manchmal, da habe sie einfach das Gefühl...

Ihre Stimme flachte ab, sie sprach nicht über ihr Gefühl, und ihr Schweigen brach so unerwartet über uns herein, dass die Stille, die es nach sich zog, klamm und betreten wirkte. Einige Augenblicke lang (an der Wand haftend der des Mädchens, in ihr Gesicht gebohrt der des Jungen, unten auf der Kreuzung der des Mannes, meiner gefangen vom wässrigen Muster der Thekenoberfläche) liessen wir diese Stille aufsteigen, über unsere Köpfe hinweg, doch als sie ein paar Momente lang dort oben geblieben war, in denen wir zu gelähmt und überrascht von der plötzlichen Peinlichkeit der Situation waren, um unserer aufkommenden Unruhe Ausdruck zu verleihen, schien sie von selbst wieder herabzusinken und die Leere zwischen uns auszufüllen... ich konnte mir nicht helfen – einen Moment lang überkam mich das Gefühl, dass aus alledem etwas werden konnte.

Doch dann liess der Mann mit der Wollmütze das Schweigen platzen, er murmelte halblaut Scheissescheissescheisse, und nur Sekunden später folgten die ersten Worte des Begleiters des Mädchens, ein unentschiedenes „Das ist nicht in Ordnung“, und ich musste lächeln, ich weiss nicht warum.

Mein Burger war vollständig aufgegessen und das Getränk heruntergeschluckt, aber ich blieb sitzen und spielte mit dem Strohhalm in meinem Becher, bereit. Doch das Mädchen redete wieder, und von links kam nichts als dieses Lachen, das nun deutlich erkennbar war; es war die Verbitterung darin gewesen, die es als Seufzen hatte erscheinen lassen.

In der Fensterspiegelung suchte ich nach dem Bild des Mannes, aber entdeckte nur die Kreuzung, auf die ich kein Anrecht hatte, ich weiss nicht, vielleicht war es wirklich zum Verzweifeln. Ich wollte mir diese Frage nicht ernsthaft stellen, nahm mein Tablett und ging damit zum Mülleimer.

Auf dem Weg zum Ausgang musste ich noch einmal am Tresen vorbei und sah zum ersten Mal das Gesicht des Mannes.

Er war jung, und ich darüber überrascht – aber das war auch schon alles.

 

Dieser Text entstand, mehr oder weniger, im McDonald's am Bahnhofplatz in Zürich. Er erschien in der Anthologie Talwind. Er ist, wie man so sagt, blutig authentisch, denke ich, auch wenn ich ihn (vielleicht deshalb) nur bedingt gelungen finde. Den Titel mag ich allerdings nach wie vor.

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