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  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Pink & The Brain: "Tokyo X Erotica" von Takahisa Zeze

Updated: Feb 16, 2021


KRITIK von „Tokyo X Erotica“ von Takahisa Zeze, der Sex-Filme als Mittel der Gesellschaftskritik und metaphysischen Spekulation schafft. (Und diesem Blog den Titel gegeben hat.)

Als shitennô bezeichnet man sie in Japan, die vier Regisseure, die Ende der 80er-Jahre antraten, um dem langsam dahinsiechenden „pinku eiga“ eine Adrenalinspritze mitten ins Herz zu versetzen. Im Westen wird das meist als „Die Vier Teufel“ übersetzt, um auf das Ungehörige in ihren Filmen zu verweisen. Will man am Bild des alle Regeln verachtenden Diabolischen festhalten, dann wäre Takahisa Zeze wohl so etwas wie der Gehörnteste unter seinen Kollegen. Nicht, dass die Filme der anderen Drei – Kazuhiro Sano, Hisayasu Satô und Toshiki Satô – nicht auch bahnbrechend innovativ und gelegentlich unangenehm wären; aber Zeze ist dennoch so etwas wie der Prototyp dieser „Nouvelle Vague“ des japanischen Sex-Kinos: ein Intellektueller, der an den besten Universitäten Japans studiert hat und entsprechende Ansprüche auch an seine Filme stellt, ein Gratgänger zwischen Porno-, Mainstream- und dem, was hierzulande wohl „Independent“-Kino heissen würde, der trotz kommerziellen Erfolgs in anderen Bereichen immer wieder zu den Anfängen seiner Karriere im Pink Film zurückkehrte. Eine Karriere, ungewöhnlich genug für die japanische Filmindustrie (und hierzulande ohnehin völlig undenkbar). Was bringt einen Mann wie Zeze zum Sex-Kino? Die Antwort lautet schlicht: Freiheit. Ende der 80er-Jahre, in einer Zeit, in der das traditionsreiche japanische Studiosystem endgültig zu erodieren drohte und der Pink Film unter der übermächtigen Konkurrenz des Video-Hardcore-Porno wankte, erkannte Zeze in der dämmernden Apokalypse eine Chance: Die Wege zum ersten eigenen Film seien hier doch ungleich kürzer als im Mainstream-Studio-System. Und überhaupt: Wenn der Pink Film sowieso vor die Hunde gehen sollte, dann würde man ihm vielleicht auch freie Hand lassen. Die Rechnung ging auf: Ähnlich wie Shinya Tsukamoto und eine Handvoll weiterer Indie-Regisseure, die mit Werken wie „Tetsuo“ anno 1989 die Augen der Weltöffentlichkeit und der eigenen Kinogänger wieder auf das japanische Kino lenkten und es damit vor dem Versinken in Ignoranz und Belanglosigkeit retteten, verhalfen auch die Vier Teufel dem „pinku eiga“ zu einer Renaissance. Gestatten: Jean-Luc Zezemush Dabei erfüllen ihre Filme die Richtwerte dieses Subgenres des Sex-Films gerade noch: Sie dauern meistens eine Stunde, sie bieten das geforderte Minimum von fünf Sex-Szenen, sie werden in einer Kette spezialisierter Kinos vorgeführt und sie entstehen unter den drakonischen Bedingungen eines Budgets von rund 30’000 Dollar und einer Drehzeit von weniger als einer Woche. Alles andere jedoch wurde einer radikalen Frischzellenkur unterzogen. Auf der formalen Ebene griff man zu allerlei Arthouse-Gimmicks: Jump Cuts und häufige Formatwechsel, das Einreissen der Vierten Wand sowie aussergewöhnliche Kamerawinkel – Zezes Treppenwitz, einen seiner Filme unter dem Pseudonym „Jean-Luc Zezemush“ zu drehen, kommt nicht von ungefähr. Den formalen Neuerungen entsprechen nicht minder radikale inhaltliche, wobei vor allem die Szenen zwischen dem Sex ausgeweitet und erzählerisch genutzt werden: Die Filme der shitennô thematisieren die Vereinsamung der Menschen im urbanen Raum, die Abgründe der menschlichen Psyche (wobei Mord und Vergewaltigung häufige Motive sind), gelegentlich auch offen die Leerstellen, die das herrschende ökonomische und politische System produziert und in denen dennoch Menschen nisten. In Zezes Filmen tritt zudem immer wieder die Religion auf, in symbolischen Verweisen und Gesprächen über Reinkarnation und Schicksal.

Wenig erstaunlich, dass diese idiosynkratische Art des Filmemachens die Aufmerksamkeit der östlichen wie westlichen Cineasten weckte, die die Vier Teufel – allen voran Zeze – ab Mitte der 90er-Jahre in Retrospektiven und Festivals hofierten. Ebenso wenig erstaunlich, dass dies starker Tobak war für die traditionellen Pink-Konsumenten, die im Sex-Kino nichts weiter suchten als einige schnelle Minuten, in denen Denken so ziemlich das Letzte ist, woran gedacht wird. Der Spagat zwischen den künstlerischen Ambitionen und der Bedienung dieser ursprünglichen Zielgruppe zeigt sich nirgends schöner als in einer Politik der Doppel-Titel-Gebung, die zur veritablen Kunstform gereift ist, mit Takahisa Zeze als ihrem unangefochtener Meister: Sein Debütfilm wurde beworben als „Extracurricular Lesson: Violent Assault“, bekannter ist er allerdings als „Go to Haneda and You Will See Kids Who Have Become Pirates Waiting to Depart“. Ebenso schön: „My Train Is Supposed to be Going North But It’s Going South“ (der in den Kinos lief als „Molester Train: Mischievous Wives“). Und natürlich der berühmt-berüchtigte „The Phenomenon Called Myself Is a Single Blue Illumination Within the Assumed Organic Interchanging Electric Lamp“, alias „Garden of No Men: Uniform Lesbian“. Geburt, Leben, Tod Dagegen mutet der Titel „Tokyo X Erotica“ schon fast prosaisch an. Abgesehen davon ist dieser 2001 erschienene Film (der damit einer der aktuellsten pinku eigas Zezes ist) aber durchaus repräsentativ für das Schaffen des Regisseurs. Der Film setzt ein mit einer kurzen Sequenz, in der ein junger Mann, Kenji, Opfer des Gas-Anschlags der Aum-Sekte im Jahr 1995 wird. Kenji und seine Ex-Freundin Haruka (Yumeka Sasaki) bilden das Zentrum des Films, dessen fünf Episoden über Zeit und Raum verteilt sind und sich lose um das Paar gruppieren: Am Tag des Anschlags empfängt eine Frau ihren Liebhaber, der der Yakuza angehört. Eine Episode ist Haruka gewidmet, die 1997 in einem seltsam überstylten Loft bezahlten Sex hat und schliesslich den Tod findet. Eine weitere spielt 1989: nicht nur das Jahr, in dem Zeze als Pink Regisseur debütierte, sondern auch die Zeit politischer Umwälzungen, wie TV-Bilder des Massakers am Tiananmen-Platz in Peking zeigen. Die Protagonisten dieser Episode kümmern sich freilich wenig darum und widmen sich stattdessen einer alkoholschwangeren Party, deren Freizügigkeit den unbeschwerten Hedonismus der Prä-Aids-Ära heraufbeschwört. Schliesslich gibt es Szenen aus der gemeinsamen Vergangenheit Harukas und Kenjis – und ihrer Zukunft, die den Tod überdauert. Ungewöhnlich für einen Pink Film ist nicht nur diese Struktur, sondern auch das digitale Format, in dem „Tokyo X Erotica“ gedreht wurde – es erlaubt eine relativ freie Kameraführung und eine umfassende Farbmanipulation, die monochrome Schwarz-Weiss-Bilder ebenso wie quasi-psychedelische Buntheitsexzesse umfasst. Und sie verleiht dem Film eine unfertige Note, einen Anschein von Improvisation, der gelegentlich ins (Pseudo-)Dokumentarische kippt: Dann nämlich, wenn die Schauspieler – ohne aus ihrer Rolle zu fallen – in Interviews Fragen erörtern wie die, ob die Zeit vor der Geburt länger sei als die nach dem Tod. Letzterer bleibt allgegenwärtig in Zezes Film, in Gesprächen ebenso wie in personifizierter Form, die gelegentlich (durchaus auch beim Sex) Mahnungen und Drohungen an die Protagonisten richtet – und dabei bewusst nicht immer Ernst zu nehmen ist. Die Funken von Humor tun dem schwer mit Gedankengut beladenen Film durchaus gut. Dennoch wirkt er zuweilen etwas überambitioniert oder gar pseudo-tiefgründig. Ein Vorwurf, der Zeze während seiner gesamten Karriere verfolgte – nicht immer zu Unrecht. Auch in „Tokyo X Erotica“ wirkt die formale Experimentierfreudigkeit und die metaphysische Dimension gelegentlich etwas selbstgefällig. Doch selbst Kritiker müssen dem Film eine beeindruckende Effizienz im Erzählen zugestehen, zu der nicht zuletzt die Sex-Szenen einen erheblichen Teil beitragen. Ihre Bandbreite ist gross, sie reicht von anal bis zu oral, von Bondage bis zum Sex im Hasen-Kostüm – und doch ist den meisten von ihnen eines gemein: Dass sie beschreibend wirken. Was sie beschreiben, sind Beziehungen zwischen Menschen – die in ihrer Bandbreite derjenigen der betriebenen Kopulations-Varianten in nichts nachstehen. Selbst dort, wo den Figuren keinerlei Bildschirmzeit ausserhalb des Betts bleibt, werden sie nicht selten zu plastischen und durchaus mehrschichtigen Figuren. Verglichen mit der hiesigen filmischen Kultur, die zwischen unverhohlener Hardcore-Pornographie und dem beschämten Wegblenden vor Sexszenen beinahe keinerlei Nuancen zu kennen scheint, wirkt die Wiederentdeckung dieser dramaturgischen Möglichkeiten – allen Nouvelle Vague-Strategien zum Trotz – fast am Erstaunlichsten.

 

Dieser Text erschien ursprünglich auf nahaufnahmen.ch. Wer mehr wissen will über pinku eiga (oder zumindest meine Faszination mit dem Thema vor Jahren), kann gerne auch meine Zusammenfassung/Kritik von Jasper Sharps Standardwerk zum Thema, "Behind The Pink Curtain" lesen. Oder meine Kritiken zu weiteren pinku eiga, wie die zu "The Strange Saga of Hiroshi, The Freeloading Sex Machine", die zur schönsten Alters-Sex-Romanze "Tasogare. Liebestoll im Abendrot" oder die zu "Underwater Love", in der Christopher Doyle koppulierende, liebeskranke Schildkrötenwesen filmt.

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