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  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Tief verwurzelte Geschichten: "The Witcher" und Folklore

Updated: Feb 16, 2021


ESSAY Einige Gedanken und Worte zu den Witcher-Spielen, vor allem aber zum Umgang mit Folklore in Computerspielen. Das polnische Rollenspiel The Witcher 2 ist jüngst für Heimkonsolen erschienen. Ich habe es bereits letztes Jahr anlässlich seiner Erstveröffentlichung auf dem PC besprochen und bin nicht davor zurück gescheut, es als “wichtig” zu bezeichnen. Dabei bleibe ich: Es ist wichtig, dank seiner “No Bullshit”-Attitüde, mit der sich die Entwickler gerne und zurecht brüsten: The Witcher 2 gehört nicht nur zu den wenigen Spielen, die es wagen, den Spieler narrativ zu fordern – es traut sich auch, seinen Helden zu überfordern, und steht damit beinahe allein da im Reich der Power-Phantasie. Wenn das Spiel trotz aller pubertärer Späße und eskapistischer Fantasyanwandlungen das Wort „mature“ verdient, dann in diesem Sinn. Der Witcher ist nicht der ritterliche Fantasy-Heldenarchetyp; vielmehr ähnelt er dem Revolverhelden des Spätwesterns, der seine persönliche Vendetta verfolgt und sich auf dem Weg dahin eventuell überzeugen lässt, das eine oder andere Problem mit aus dem Weg zu räumen. Während er jedoch hier und dort Brandherde löscht, überrollen ihn die Ereignisse wie eine Feuerwalze. In beiden Witcher-Spielen findet sich der Spieler in der Titelrolle wieder im Zentrum eines doppelten Konflikts (einer mystisch, der andere realpolitisch), der so komplex ist, dass er nur gestützt auf das extrem unterhaltsam geschriebene Spiel-Kompendium nachvollzogen werden kann. Und nur sehr bedingt beeinflusst: One man is never enough, denn Einfluss auf die Welt zu haben heißt nicht, sie nach seinem Willen gestalten zu können. Tom Bissell, einer der besten Journalisten, der sich mit Computerspielen auseinandersetzt, hat sich das Spiel kürzlich ebenfalls angesehen und fand nichts von alledem – oder sonst etwas von Interesse. Ein harsches Urteil. Doch Bissells Kritik am Spiel ist breit abgestützt und, wie er offen zugibt, sehr persönlich. Letztlich läuft sie darauf hinaus, dass sich das Spiel unnötig sperrig gibt: das Interface scheint nicht für die menschliche Motorik gemacht, Spielerführung gibt es kaum, und wenn, dann höchstens in die Irre. Damit spricht Bissell einige der Schwachpunkte an, die selbst von Liebhabern des Spiels unter wiederkäuenden Lopreisungen gemurmelt werden. Doch sind sie nicht der eigentliche Grund für Bissells vernichtendes Urteil – sein Problem ist es, dass nichts im Spiel ihn für diese Unzulänglichkeiten entschädigt hat. Bissell hörte zwar (von Leuten wie mir), dass das Spiel für die Geschichte spielenswert sei… aber genau diese wirkte auf Bissell in den ersten Stunden absolut stromlinienförmig und bar jeden lokalen Charakters – das Kriterium, das Metro 2033 zu Bissells Lieblingsspiel von 2010 gemacht hat:

The Witcher novels are apparently heavily grounded in Slavic mythology, but nothing I saw in The Witcher 2 felt at all distinctly Slavic, other than the low-hanging fruit of a Russian-accented, vodka-drinking troll.

Dass Bissell für sein dreistes Urteil mit einem donnernden Hasshagel bestraft wurde, war im auf Selbstbestätigung bedachten Klima der Game-Kultur zu erwarten. Wohlan denn, speuet auch auf mich, Verteidiger des Metacritic-Stores, denn ich reiche Bissell meinen Schirm und verkünde: CD Project haben vielleicht die alte Tolkien-Ausgabe aus dem Regal genommen und auf das staubfreie Rechteck George R. R. Martin gestellt. Doch wie sehr dies The Witcher 2 innerhalb des Genres auch adeln mag – im Vergleich zu einem anderen Spiel fällt es in Sachen Schöpfungskraft streckenweise doch steil ab: Seinem Vorgänger. Über den ich notabene geschrieben habe, dass man ihm eine Art von Beachtung schenkt, wie man sie zwei beim Feiglingspiel in Flammen aufgehenden Piloten entgegenbringt: Mit erhobener Augenbraue angesichts des Scheiterns, aber einem Heidenrespekt vor dem Versuchten. Entscheidend aber ist: für eine kurze Weile überstrahlt der Respekt alles andere.

Sie läßt sich sogar genau bezeichnen: Es ist jene Strecke, die quer durch das vierte Kapitel des ersten Witchers verläuft, einer Küstenlinie entlang, durch einen Wald hindurch, und hin zu einem von allen menschlichen und unmenschlichen Unbilden heimgesuchten Dorf. Zwischen der Küste und diesem Dorf aber finden sich majestätische, wogende Kornfelder. Herrgott, diese Kornfelder! Sie sind der Grund, warum der erste Auftritt des Witchers in meiner Erinnerung lebhaft wie eine Schimmelpilzkolonie auf feinster Großmutterkonfitüre fortexistiert, während die Erinnerungen an den zweiten Teil bereits jetzt zu einem verschwommenen, wenn auch kunstvollen Prisma prächtiger Bilder zerlaufen sind. An Tagen, an denen ich Konfrontation suche wie ein Tanzbär den Schalter der Herdplatte unter seinen Füßen, behaupte ich sogar: Diese Felder sind das Beste, was dem Rollenspielgenre in Jahren passiert ist. Nicht nur, dass die Ähren darin so proppevoll sind, dass sie ohne weiteres für Jahrzehnte Brot für die Welt© bereitstellen könnten. Die Felder sind auch ein extrem fruchtbarer Boden für das, was Bissell im zweiten Witcher vergebens gesucht hat: Eine Fantasie, die nicht von den Visionen englischsprachiger Zuspätromantiker zehrt, sondern dem lokalen Sagenschatz der Heimat der Entwickler. Bekenntniszeit: Ich komme aus einer Gegend, die in einer fruchtbaren Mischung aus heidentumfördernder Abgeschiedenheit und standhaftem Katholizismus eine Sagenwelt hervorgebracht hat, so reich in ihrer verwinkelten Morbidität, dass Tolkien mit ihr konfrontiert seinen Original-Vintage-Gänsekiel-Walter-Scott-Edition zerbrochen hätte, sein Hemd zerrissen und mit klagender Stimme gen Himmel geschworen hätte, nie wieder einen Bogen Pergamentpapier anzufassen. In seiner Sagenwelt grenzt dieses Bergtal aber durchaus an Polen. Es genügt, sich einmal im polnischen Hinterland bewegt zu haben oder die dort entstehende Literatur zu lesen (Andrzej Stasiuk. Menschheit, lies Stasiuk!), um zu verstehen, dass diese Gegenden eines teilen: Ihre Sagen frönen bis heute eine verwässerte, aber unverkennbar vitale Existenz. Ich kenne Leute aus meiner Generation, die gewisse Straßen zu bestimmten Uhrzeiten meiden, um nicht einer Prozession der dort verkehrenden toten Seelen in die Quere zu kommen. Ich kenne noch einige Leute mehr, die keinerlei Grund dafür sehen würden, an der Zurechnungsfähigkeit dieser Person zu zweifeln. Religiöser Glauben, Sagen, Gerüchte und Pulp-Fantasy waren in meiner Kindheit und Jugend ein unentwirrbares, bestrickendes Knäuel, und ich erkenne ihre schiere poetische und metaphorische Wucht auch heute noch an, da ich längst gelernt habe, Atheismus schick zu finden. Insofern ist es für mich völlig unverständlich, dass CD Project nicht mehr auf diesen Sagenschatz zurückgreifen. Zumal sie es im ersten Witcher-Spiel zumindest ansatzweise taten. Ob dies in Anlehnung an Sapkowskis Roman-Vorlage geschah oder auf Eigeninitiative von CD Project, ist unerheblich. Fest steht: Das vierte Kapitel des ersten Witchers gibt eine Ahnung davon, was mit einer Umarmung der unendlich reichen, unendlich seltsamen und von universellem Halbwissen und Ahnungen getränkten Sagenwelt gewonnen wäre. Das vierte Kapitel verfrachtet den Witcher unvermittelt in ein Küstengebiet, das angesichts seiner Abgeschiedenheit genauso gut eine Insel sein könnte. Der Bruch der geographischen Kontinuität ist auch einer der narrativen: Wie Gerald dorthin gerät, warum er dorthin gerät, ist ohne Konsequenz. Das vierte Kapitel ist eine krude Bemerkung über die Mutter der Drei-Akt-Struktur und ihre Vorlieben für Zwergenpenisse, ein narrativer Umweg. Aber der Umweg zu dieser isolierten Welt scheint die Entwickler auch befreit zu haben. Ein Blick auf die Fauna dieser Biosphäre genügt: An den Küsten verstecken sich Elfenflüchtlinge aus der Alten Welt vor Fischmäulern, die gurgelnde Akzente hervorstoßen. Die Dorfbewohner sind machtlos gegenüber einem Volk pixelhoher Koboldwesen, die Nacht für Nacht den Bau einer Brücke sabotieren und nur mittels eines Katzenharnisches beruhigt werden können. Raketenwürmer pflügen sich durch den Boden, während in Ruinen, deren Herkunft niemanden zu interessieren scheint, Geister mit Würfelbechern warten. In der Nacht werden die Felder heimgesucht von geschwülstigen Nekrophagen, die schändlicherweise der einzige Versuch sind, der Langtüttin in diesem Medium Gestalt zu verleihen. Und über allem schwebt bedrohlich die Wilde Jagd, eine der düstersten und faszinierendsten Ausgeburten der europäischen Sagenwelt, die zentral ist für die Geschichte des Witchers, aber im zweiten Teil zum Hörensagen degradiert wurde. In den Feldern des vierten Kapitels kommt es dagegen nach langem und heftigem Vorausschatten endlich zu einer Konfrontation mit dieser vielgestaltigen Allegorie aller zerstörerischen Kräfte der Natur und Psyche. (Dass das Spiel mit dem Wesen des Sagenhaften vertraut ist, zeigt sich im Übrigen nur schon daran, dass in dieser Auseinandersetzung die korrekte Durchführung eines Rituals wichtiger ist als das Schwert.)

Einige der diese Kornkreise bewohnenden Gestalten sind Gemeine Wald- und Wiesenfantasybewohner. Die entscheidende Differenz ist aber: dass sie im Witcher Teil einer Lebenswelt sind. Sie interagieren, und sei es nur als Hintergrundgeschichte, mit den Menschen, die sich zwischen ihnen angesiedelt haben, Menschen, die sich über diese Wesen Geschichten erzählen oder sich mit ihnen anlegen. Es ist ein Wechselspiel, das diese Welt, so fantastisch sie auch gezeichnet ist, glaubhaft und belebt erscheinen läßt. Im zweiten Spiel ist davon wenig übrig: Ein Blick auf die Monsterkompendien beider Spiele zeigt, dass im zweiten Witcher nicht nur deutlich weniger unterschiedliche Lebewesen vorkommen, sondern dass diese auch ungleich näher beim Einfallsreichtum eines Dragon Age sind. Immerhin scheinen sie nicht völlig willkürlich platziert: Harpyien, Insektenwesen und was da sonst noch kreucht und fleucht, haben ihre spezifischen Lebensräume. Doch sind sie darin relativ allein. Sie finden kaum Erwähnung in den Kneipen der humanoiden Siedlungen, oder höchstens als Objekt in einem „Gehet hin und tötet“-Satz. Sie sind keine Bewohner eines Lebensraums, sie sind Fremdkörper… Monster. Dass dies auch anders geht, zeigt eine der schönsten Mikro-Geschichten, die in der Witcher-Saga zu finden ist, „The Heat of The Day“, die das gesamte vierte Kapitel durchwebt: Murky Waters, besagtes Dorf und die einzige menschliche Siedlung im Küstengebiet, ist, wie Dörfer dies an so an sich haben, enorm aufgewühlt angesichts eines für lokale Verhältnisse großen Ereignisses: Der Bürgermeister will seine Tochter mit einem reichen Kaufmann vermählen. Der ist der jungen Braut ergeben, die sich ihrerseits aber lieber täglich zur Mittagsstunde mit ihrem Liebhaber in einem Brombeerhain zum Schäferstündchen trifft; die Schwester der Braut beobachtet dies eifersüchtig, da sie ihrerseits heimlich den künftigen Bräutigam und (weniger heimlich) die Aufmerksamkeit liebt. So weit, so Shakespeare im Park. Außergewöhnlich aber ist der Fortgang der Geschichte: Im Laufe des Kapitels verschwindet die Braut plötzlich, und Geralt wird beauftragt, sie zu finden. Schließlich findet er sie, in den Feldern unweit des Brombeerhains, im Brautkleid tanzend in der Mittagshitze: Sie ist tot, und sie weiß es nicht. Die Details sind hier alles: Diese Braut sucht – ganz Katholizismus – den Ort heim, an dem sie gesündigt hat und an dem eine noch größere Sünde an ihr begangen wurde, als Symbol, dazu verdammt, auf ewig das an diesem Ort begangene Unrecht anzuzeigen, oder jedenfalls, bis sie erlöst wird. (Als dies dem Witcher schließlich gelingt, stellt er fest: „I solve human problems, not always using a sword.“) Und es ist ebenso entscheidend, dass die Braut nicht irgendeine übernatürliche Erscheinung ist, sondern ein Elementargeist, der nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit den üblichen Wasser- und Erdklötzen gleichen Namens, die mit dem generischen Fantasy-Magier Hol-das-Stöckchen spielen. Dieser Geist hier ist eine Verkörperung eines gebrandmarkten Orts und des ihn beinhaltenden Lebensraums, eine Allegorie der Kräfte, die diesen Raum und alle seine Bewohner dominieren. Und, zugleich, ein Mensch. Werasethakul wäre stolz: Die Grenzen zwischen der Welt der Geister und der Lebenden, sie ist fließend geworden, alle natürlichen und übernatürlichen Wesen sind nichts anderes als Bilder in einem Spiegel, mit dem Land, das sie ankert, als dessen Rahmen: Metaphern, die so viel mehr beinhalten können als Schadenspunkte und das Potential für künftige Powermetal-Cover. Das hier ist die weltenschöpfende und -erklärende Kraft der Sage, die so wenigen Leuten bewusst zu sein scheint. Eine kurze Strecke, ein Kapitel lang, schienen CD Project davon zu wissen. Ein Wissen, dass man ihnen – und so vielen anderen Designern – mit der Hardcover-Ausgabe von Leander Petzoldts Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister sanft wieder einprügeln sollte. Ich biete bereitwillig das Buch – bietet mir jemand bereitwillig die Hand?

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