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  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Über die gesprengte Hirnschale zum Herz: Paragaming

Updated: Aug 5, 2022


LONG ASS ESSAY Auf der Müllhalde wartet die Wahrheit: Über die Faszination schlechter Spiele (und Filme) und die Bedeutung von BADTRUTH.

Die notorisch lückenhafte CHRONIK DER BESTEN IDEEN ALLER ZEITEN lässt uns mit den Details zwar ebenso im Stich wie das Gedächtnis der Beteiligten. Trotzdem lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass das Schicksal seinen Lauf durch eine Kneipe hindurch nahm (ein "Rössli" oder "Leuen" vermutlich) und sich zwischen Altherren-Zigarrenschwaden und pittoresk unter Plastikglocken ausgestellten Sandwiches seinen Weg bahnte zu einem Tisch, an dem Daniel Schoch saß.


Dieser, anfangs der 90er-Jahre Student der Elektrotechnik an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, fasste sogleich den folgenschweren Entschluss, Ernst zu machen: Den entscheidenden Schritt hinaus über die Demos, die er zusammen mit einigen Bekannten schon seit Längerem entwickelt hatte, hin zu seinem ersten "vollständigen DOS-Spiel, das man vernünftig spielen kann".


Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Und es ist eine gute: die Saga des letzten unabhängigen Bieres, das auf dem Kreuzzug gegen die seelenlosen Alkohol-Konzerne dieser Welt abrechnet mit Schweizer Großbrauereien und aggressiven Longdrink-Gläsern, um in einem finalen Befreiungsschlag das Hirn selbst zu zerstören.


Eine passende Metapher für den Space-Shooter – The Last Eichhof wirkt wie das Experiment eines delirierenden Wissenschaftlers, der einen Kopf unter Zugabe von Alkohol zur Explosion bringt und die freigesetzten Schnapsideen ungefiltert auf einen Bildschirm knallen lässt. Jede Beschreibung wird hier zwangsläufig zur Aufzählung: Der vom Spieler gesteuerten letzten Eichhof-Flasche werfen sich Schaumkronen feuernde Maßkrüge, aspirinspeiende Kloschüsseln und aus Bierkästen aufsteigende Splitterflaschen entgegen. Doch auch derart authentische Artefakte eines 90er-Jahre Coder-Daseins wie fliegende Toaster und dollarzeichenspeiende Microsoft-Logos bevölkern den Schirm. Und die Tonspur ist ohnehin ein Archiv der unverdauten Interessenbekundungen: keiner der zahllosen Gegner, der beim Ableben nicht die MIDI-Version eines Filmsamples, eines Würgegeräusches oder eines Schnipsels Schweizer Volksmusik von sich geben würde.


The Last Eichhof ist, um es auf den Punkt zu bringen, ein Zwitterwesen: Ein hartes, dabei aber erstaunlich kompetentes und komplettes Shmup (Power Ups in Form des gesamten Eichhof-Sortiments können zwischen den Levels erstanden werden in einer Low-Res-Repräsentation eines urschweizerischen Spunten). Zugleich aber ist es auch ein bewusst schräges Sammelsurium des Merkwürdigen, pure Reizüberflutung, ein undisziplinierter Mindfuck.


Und es ist großartig.

 

Dieses Urteil fällt Jeremy Penner, ein kanadischer Software-Entwickler, der mit der Website www.glorioustrainwrecks.com ein Waisenhaus für Spiele wie The Last Eichhof errichtet hat. Zu den Behausten zählt Hongkong 97, ein SNES-Spiel, in dem ein Verwandter Bruce Lees zu einer beschwingten kommunistischen Hymne Genozid an Festlandchinesen verübt. Ninja Golf, ein Atari 7800-Game, das mit angemessen toternster Miene den Ninja-Hype der 80er-Jahre aufs Fairway bringt. Oder die Sammlung Casette 50, die unter anderem Galaxy Defender enthält, ein Spiel, das von einem 14-Jährigen in 12 Stunden erstellt wurde.


Glorious Trainwrecks ist ein Zufluchtsort für die Siechen, Minderbemittelten und Fehlgeleiteten, und Penner liebt jeden einzelnen seiner missratenen Schützlinge. "Ich mag das Wort ‚schlecht' nicht im Zusammenhang mit Spielen. 'Schlecht' bedeutet in der Gamer-Kultur meist nichts anderes als ‚Gefällt mir nicht'. Anstatt ein Spiel derart pauschal zu verurteilen, such ich lieber danach, was interessant daran ist." Er selbst findet denn auch nettere Namen: "'B-Spiel (in Anlehnung an B-Movies), 'Outsider Games' (in Anlehnung an Outsider Art), oder ganz einfach 'seltsame Spiele'. Ich mag auch 'schreckliches Spiel'. Wenn du jemandem sagst, 'Du musst unbedingt dieses schlechte Spiel spielen!', wird er vermuten, dass du ihn nicht sonderlich magst. Wenn du ihm aber sagst, 'Du musst dir dieses schreckliche Spiel ansehen!', dann weckst du eine Art morbide Neugierde und forderst ihn auf, etwas Wertvolles darin zu entdecken."

Doch wie schief muss man den Kopf eigentlich legen, um diesen Wert zu erkennen? Was bewegt Leute wie Penner dazu, den Unfällen der Gamegeschichte ein Mausoleum zu bauen?

Diese Wertschätzung des Wertlosen beschäftigte auch Jeffrey Scone, als er vor knapp 15 Jahren Zeuge eines irritierenden Aufblühens der Trashfilm-Zelebrierung wurde. Wie kann es sein, fragte er sich, dass die Meriten des schlechten Film-Geschmack ausgerechnet von Leuten gepredigt werden, die es besser wissen sollten? Denn die Schatzgräber auf den Abfallhalden der Filmgeschichte rekrutierten sich vorwiegend aus den Rängen von Filmstudenten.

Scone tat, was alle Eltern tun, wenn ihre Zöglinge plötzlich durchzudrehen beginnen – er fand Trost in der Erklärung, dass ein ur-adoleszenter Impuls verantwortlich sein muss für die Erkundung der Abwege: Abgrenzung, Identitätsfindung, eine nur halb-ironische und vollständig aggressive Protesthaltung gegenüber dem ‚Guten Geschmack‘ der Eliten – im Falle der Filmstudenten die arrivierten und damit höher gestellten Filmwissenschaftler und -kritiker. Dass der Widerstand gegen den ‚künstlerisch wertvollen Film‘ selbst reichlich elitär ist, der gegensätzliche Pol auf einer gemeinsamen Achse, die um das verabscheute Zentrum Mainstream-Hollywood kreist, milderte keineswegs den Furor, mit dem die Trash-Liebhaber den etablierten Kanon verdammten und die eigenen Plunder-Propheten priesen. Scone prägte für diese kämpferische Haltung den Begriff 'Paracinema'.

Doch dieses ‚Gegenkino‘ erschöpfte sich nicht in mit Kraftausdrücken gespickten Manifesten und grimmigen Blicken; tatsächlich ist Paracinema, wie Scone feststellte, eine bewusste ästhetische Praxis, mit eigenen Maßstäben und Leitlinien. Insbesondere zwei Dinge wurden Scone gegenüber immer wieder als Meriten des Missratenen gepriesen: B-Movies als Leuchtfeuer der Freiheit – der Freiheit zur exzentrischen Selbstentfaltung der Filmemacher, aber auch der Freiheit, Themen anzusprechen und zur Darstellung zu bringen, die dem Mainstream-Kino die Schamesröte auf die Leinwand treiben würden. Und andererseits Trash-Filme als das große Andere, die stets aufs Neue verblüffende Freakshow. Dass sich Innovation und surreale Qualitäten nicht durch künstlerische Virtuosität einstellen, sondern durch die dilettantische Unfähigkeit, filmische Normen und Regeln einzuhalten, ist dabei kein Problem – Unfälle und Ressourcenknappheit werden als Ursprung der Innovation begrüßt. In den Worten eines Aficionados ist letztlich alles willkommen, “solange es nicht das Zeug ist, das man üblicherweise zu sehen kriegt."

 

Es ist verlockend, Scones Konzept auch auf die Jünger des Schlechten Spiel-Geschmacks zu übertragen. Doch der Idee eines ‘Paragamings’ stellt sich ein Problem von endboss-artigen Proportionen in den Weg: Es mangelt ihm an Feindbildern. Ein Game-Kanon hat sich bis heute nicht durchsetzen können. Und entsprechend hoffnungslos scheint der Versuch, die arrivierten Hüter des Bildungs- und Kulturbetriebs mit einem lautstarken Plädoyer für einen Konter-Kanon aus ihren Talaren zu schocken. (Zumal ohnehin der Vorschlag, jedes beliebige Computerspiel zum Gegenstand einer BA-Arbeit zu machen, an vielen Universitäten noch immer als unerhörter Schelmenstreich gilt.) Jesper Juul, der solcher Ignoranz auf seinem Werdegang zu einer Ikone der Game Studies begegnet sein dürfte, spricht es offen aus: Paracinema kann sich gegen den ‚Guten Filmgeschmack‘ auflehnen; Computerspiele aber stehen ohnehin im Generalverdacht des ‚Bad Tastes‘. Gegen wen soll sich die Rebellion da schon wenden?

Doch vielleicht ist die Frage zu persönlich. Vielleicht ist nicht entscheidend, gegen wen man sich richtet, sondern gegen was. Auch wenn sich Paragaming im Gegensatz zu Paracinema nicht erklären lässt als Abgrenzungsversuch gegenüber den grauen Eminenzen des Kultur- und Bildungsbetriebs, teilt sie mit dem filmischen Vorgänger doch einen Gegner: die angestammten Normen des jeweiligen Mediums, die auch Juul in einem vorsichtig formulierten Mini-Paragaming-Manifest zum Teufel wünscht: „Wir wissen alle, dass Spiele vernünftige Benutzeroberflächen haben sollten, ausgewogene Lernkurven, Welten, die Sinn machen. Aber weißt du was? Scheiß drauf. Gib mir unzumutbare Spiele, die nicht funktionieren, die auf Konventionen spucken, die mich dazu zwingen, auf furchtbare Grafik zu starren, zu erschaudern beim Klang der Musik, anzukämpfen gegen unlogische Benutzeroberflächen, und ernsthaft zu bedenken, was ich da eigentlich tue: echte Spiele, echt schlechte Spiele.“

Juul will also zum Denken angeregt werden. Er sieht das ‚Bad Game‘ im Licht des heiligen Simpels und weisen Narrens, der als selbstverständlich hingenommene Konventionen naiv in Zweifel zieht und mit Idiotenmund Wahrheit kundtut. Vom Versagen der komfortablen Design-Paradigmen erhofft er sich letztlich eine kritische Distanz, die im Banne der reibungslos funktionierenden Illusionsmaschinerie selten eingenommen wird. Damit öffnet Juul auch gleich die Ausfalltüre für das, was Alexander Galloway als ‚Countergame‘ und das Copenhagen Game Collective als ‚abusive game design‘ beschrieben haben: Spiele solcher Exzentriker wie Jonatan 'Cactus' Söderström, Mark 'Messhof' Essen oder Jason Nelson, deren Werk wahlweise schrill, hässlich, aggressiv oder schlechterdings kaum spielbar ist – allerdings, und darin unterscheidet sich der savant fou vom mit allen Protestwassern gewaschenen enfant terrible, mit voller Absicht. Ihre Spiele sind ‚schlecht‘, um die Erwartungen dessen, was ein Spiel oder ein so diffuses Konzept wie ‚Spaß‘ eigentlich ausmacht, gründlich in Frage zu stellen.

Als Nebeneffekt kann sich eine solche Erkenntnis durchaus auch einstellen bei den auf Glorious Trainwrecks vorgestellten Spielen. Der Moment der Klarheit wird gerne mitgenommen – doch das Zentrum des Paragamings ist nicht der Kopf, sondern ein großes, pulsendes Herz.

Hört man Penner über die Höhepunkte des Abgründigen sprechen, klingt das entsprechend liebevoller. Wenn er erzählt, wie er zum Freund der ‚schrecklichen Spiele‘ wurde, malt er uns hingebungsvoll eine (Medien-)Geschichte des Unbekannten, Zufälligen und Unberechenbaren, in der er sich die Rolle des leidenschaftlichen Entdeckers und Forschers in den Bergen des Wahnsinns auf den Leib schreibt.

„Ich habe immer schon dieses Gefühl geliebt, das sich einstellt, wenn man auf etwas stößt, das man nirgends richtig einordnen kann. Das geht zurück bis in meine Kindheit. Viele Leute aus meiner Generation teilen diese magische Erfahrung, bei der sie auf eine mysteriöse Sammlung von Disketten voller kopierter Spiele gestoßen sind, ohne genau zu wissen woher sie kamen, was sie waren, oder wie man sie eigentlich spielen sollte. Später dann bekam meine Schule einen PC mit einem CD-ROM-Laufwerk… eine der wenigen Scheiben (neben der obligatorischen Enzyklopädie) war die PC-SIG Shareware-Sammlung, die abertausende von archivierten Disketten mit vollkommen willkürlichem Inhalt umfasste. Man konnte einen Katalog durchgehen, um etwas zu finden, was einen interessierte, musste sich die Nummer der Diskette merken, die Ziffer in einem separaten Menü eingeben und schauen, was passiert. Ziemlich bald begann ich, zufällig Nummern einzutippen und zu sehen, wohin es mich führte. Und als ich dann zum ersten Mal Zugang zu einem Modem hatte, begann der Spaß erst richtig: Du konntest zu einem Bulletin Board System oder einem FTP-Server gehen und tonnenweise Ramsch herunterladen – dein einziger Kompass war eine Beschreibung, höchstens eine Zeile lang. The Last Eichhof habe ich auf diese Weise gefunden – es war ein vier Megabyte großer Download mit dem verführerischen Namen ‚BEER.ZIP‘.“

Diese Namensgebung muss umso mehr als Geniestreich des Amateur-Marketings gelten, als Daniel Schoch keine Kontrolle darüber hatte, wie sein Shooter in Umlauf gebracht wurde. „Wir haben es halt kopiert und verschiedenen Leuten gegeben. Außerdem haben wir es auf das, was damals das Web war, hochgeladen… und abgewartet.“ Und das Warten zahlte sich aus: Die Spieler von The Last Eichhof kamen kistenweise der im Spiel platzierten Aufforderung nach, den Entwicklern Postkarten zu schicken – eine davon sogar aus dem Iran. Auch heute noch schreiben Leute Wikipedia-Artikel zum Spiel, teilen Youtube-Videos oder versuchen sich an einer Android-Portierung.

Ist eine solche Erfolgsgeschichte, so bescheiden sie im größeren Kontext auch sein mag, jenseits der 90er-Jahre-Shareware-Szene überhaupt denkbar? Penner vermutet es: „Wir leben in der besten Epoche für die massenhafte Verbreitung von rauer, ungefilterter Kreativität, die die Menschheit je erlebt hat. Wir haben dieses fantastische Distributionssystem namens Internet, wo jeder alles veröffentlichen kann. Und es gibt mehr kostenlose Werkzeuge um Spiele zu machen, als je zuvor. Ich kann hunderte von wundervollen schrecklichen Spielen finden, die ich mit einem Klick auf ‚Xbox Live Indie Games‘ herunterlade, ohne auch nur den Hintern von der Couch heben zu müssen.“ Doch das Land der Überfülle, in dem Gülle und Unrat fließt, hat seine eigenen Probleme: „Früher war es derart aufwändig, überhaupt an diese Spielen zu kommen, dass man ihnen letztlich eine Chance gab – egal wie abschreckend der erste Eindruck war.“ Wo sich aber die Abfallhalden zu Bergen türmen, schwindet die Geduld – und die Hoffnung, alles allein durchkämmen zu können. „Die Community ist das Ein und Alles“, bestätigt Penner. „Glorious Trainwrecks ist genau das: ein Ort, an dem man sich über diese Dinge austauschen kann. Wenn ich etwas Irres finde, kann ich darüber schreiben, und andere Leute können es mit mir teilen. Das ist ungemein kostbar.“

 

Gemeinschaft, Leidenschaft, geteilte Freude am Entdeckten: Penners Zeichnung der Glorious Trainwreck-Sippe wirkt wie das Hippie-Gegenstück zur punkigen Abgrenzung und Selbstbestätigung durch Negierung, die Scone in der Paracinema-Szene ausmacht. Doch auch wenn die Trashfilm-Liebhaber einem Flirt mit dem Negativismus nicht abgeneigt sind, sind sie doch keine Nihilisten. Wie Penner verstehen sie, dass geteiltes Filmleiden doppelter Genuss ist – und dass eine weitere, unvermutete Tugend die Wertschätzung am Fragwürdigen ungemein steigern kann: Mitgefühl und Humanismus.

„Müsste ich eine einzige Antwort geben auf die Frage, was ein gutes schlechtes Spiel ausmacht, würde ich ohne Zögern antworten: Persönlichkeit“, meint Penner, bevor er ausholt, „Furchtlosigkeit angesichts des Scheiterns. Das Streben danach, die eigene Vision umzusetzen, ist wichtiger als die Frage, ob es auch gelingt. Man muss es versuchen, und man muss andere Leute sehen, die es versucht und es nicht geschafft haben, und trotzdem weitermachen. Oder wenigstens den Mut gehabt haben aufzugeben und zu etwas anderem fortzuschreiten. Scheitern ist entscheidend für unsere Entwicklung als Mensch.“

Penners Favoriten sind folgerichtig wahrhafte Titanen des persönlichen Scheiterns. „Mein vermutlich liebstes B-Spiel ist Quite Soulless von Vasily Zotov. Zotov wurde von so unterschiedlichen Instanzen wie der russischen Obrigkeit, der amerikanischen Regierung und 3D Studio Max für psychisch krank erklärt. Ich kann das nicht beurteilen. Was ich aber weiß, ist, dass dieser Mann vier Jahre seines Lebens in einem fokussierten, aufreibenden Kraftaufwand damit verbracht hat, eine Reihe von Spielen zu erschaffen, die hässlich, rau, zusammenhangslos und faszinierend sind. Quite Soulless ist sein Erstling; ein Adventure-Spiel mit Actionelementen. Ich würde gerne erklären, worum darin es geht, aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Man kontrolliert diesen Mann, und er aktiviert einen seltsamen Mechanismus, und verwandelt sich in einen anderen Mann, und dann bekämpft man einen tentakelbewehrten Zug und… die Geschichte Zotovs ist tragisch. Er hat gelitten. Und hier bin ich und weiß noch nicht einmal, wie ich über sein Werk reden soll, ohne zynisch oder herablassend zu klingen. Ich will mich aber nicht über ihn lustig machen. Ich denke, dass seine Arbeit interessant ist. (Auch wenn man es tatsächlich komisch ist, wenn ein hässliches 3D-Modell einer alten Frau aus jeglichem Zusammenhang gerissen in eine Gefängniszelle kotzt.)“

Diese Idee des Machwerks als Fenster zur Seele, das nicht verschmiert wurde mit den berechnenden Hochleistungsfingern des ‚wahren‘ Künstlers, hat in der Paracinema-Szene einen eigenen Namen: „Wir werden nicht ‚unterhalten‘, wir sympathisieren mit unseren leidenden Seelenverwandten auf dem Bildschirm. Die Darbietungen taugen nicht als eskapistische Fantasie – sie sind eine harte Dosis BADTRUTH“, wie es die Zeitschrift Zontar auf den orthographisch fragwürdigen Punkt bringt.

BADTRUTH. Das großgeschriebene Streben nach Wahrheit scheint letztlich der Kern des Paragamings zu sein: Nach der Wahrheit, dass es neben den bekanntermaßen funktionierenden Ästhetikmaßstäben und Mechanismen noch andere Wege zu erkunden gibt. Nach der unverblümten Wahrheit des Abbilds eines Lebens (sei es das eines psychisch kranken Russen oder eine Schweizer Studentenexistenz in den frühen 90er-Jahren). Nach einem wahrhaften guten Witz. Oder nach der simplen, allzu oft vergessenen Wahrheit, dass der Mann hinter dem Vorhang ein Mensch ist, mit Warzen, und allem.

Vielleicht führen die wundersam gestörten Spielen aber auch hin zu einer unbequemeren Wahrheit. Tom Bissell vermutet in Extra Lives, dass sich die größten Kunstwerke durch eine umfassende, vielfältige und reichhaltige Intelligenz auszeichnen. Computerspiele verfügen, schreibt Bissell, oft über so viel formale und stilistische Intelligenz, dass sie kaum wissen, wohin damit – doch zugleich finden sich höchstens Spuren von thematischer, emotionaler und moralischer Intelligenz. BADTRUTH ist, im Idealfall, die Umkehrung der Vorzeichen, das totale Versagen in allen genormten IQ-Tests zur formalen und stilistischen Intelligenz – zugunsten der emotionalen Intelligenz, oder doch zumindest der emotionalen Offenheit. 'Bad Games' schließen damit eine Lücke, die im Medium klafft, und reißen im Prozess eine andere auf. Und es ist diese Spalte, in der die Paragamer auf ihre Schätze stoßen, versichert Jeremy Penner: „Schlechte Spiele sind eine Feier der Verschrobenheit der menschlichen Existenz. Wenn jemand etwas kreiert, das sich jenseits der üblichen Pfade bewegt, dann verrät uns dies etwas darüber, wer sie sind – aber auch darüber, wer wir sind.“

 

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der ersten Ausgabe des WASD-Magazins.

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