top of page
  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Alles Menschenmögliche: Sion Sonos "Love Exposure"

Updated: Feb 16, 2021


KRITIK von Sion Sonos „Love Exposure“. Coming of Age-Story, Verwechslungskomödie, Travestie, Karate-Flick, Sozialfarce, Milieustudie, High School-Romanze, Splatterorgie, Grand Guignol und und und und und: Sion Sono fasst mit „Love Exposure“ in knapp vier Stunden mehrere Jahrzehnte japanischer Pop-Kultur zusammen und führt sie zugleich zu einem Höhepunkt. Mit einem Wort: Wahnsinn. Jorge Luis Borge hat „Barock“ einmal definiert als jenen Stil, „der seine Möglichkeiten ausschöpft (oder ausschöpfen will), und der hart an die Karikatur seiner selbst grenzt“. So gesehen war Sion Sono schon länger dem Barock verpflichtet. Mindestens seit er seine pornographischen Anfänge sublimiert hat in Richtung „ero guru“, jener in Japan traditionsreichen „erotischen Groteske“ vorwiegend verstörender Prägung. Seine letzten drei Filme – „Strange Circus“, „Suicide Club“, „Exte – Hair Extension“ – waren mit Ideen vollgestopfte Bilderreigen, die sich nie darum kümmerten, ihren überbordenden Symbolismus im Zaun zu halten. Die Grenze zur Selbstparodie war für Sono nur eine weitere, die zu überschreiten er nötigenfalls mehr als bereit war. Auch „Love Exposure“ ist kein Bruch mit dieser Linie – ein Novum ist er aber insofern, als er die von Borges gesetze Klammer aufsprengt. Sonos Karriere mag so einzigartig nicht sein – er teilt sich die Anfänge in der Pornographie mit Takahisa Zeze oder Koji Wakamatsu, den Hang zum Genre-Bending mit Shinji Aoyama, die Vorliebe für den Exzess mit Takashi Miike und den Erfolg bei exklusiven Zirkeln ausländischer Kritiker mit allen der Genannten. Trotzdem hat Sono ein Alleinstellungsmerkmal: den Hang zum barocken Grössenwahn. Einem durchaus gesunden im Fall von „Love Exposure“, wo er unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten auch tatsächlich Grosses schafft. But wait, there’s more! Eine Farce auf den Katholizismus, etwa. Yus (Nishijima Takahiro) Mutter stirbt, nicht jedoch ohne dem Sohn eine heilige Sehnsucht nach seiner persönlichen Maria einzupflanzen. Der Vater lässt sich aus Gram zum Priester weihen. Der Vater-als-Priester wird von einer alternden femme fatale verführt. Die femme fatale lässt den Priester fallen, der verhärmt Scham wie Selbsthass auf den Sohn projiziert. Der Beichtstuhl als letzter Ort der Kommunikation zwischen den beiden. Der Sohn sucht dem Bild nachzueifern, das sein Vater von ihm hat – nur dass ihm zum lästerlichen Saububen die Sünde fehlt. Also macht sich der Sohn auf, sie zu suchen, und wird fündig. But wait, there’s more! Ein Guru, dem das weibliche Geschlecht heilig ist, etwa. Der weiht Yu ein in eine geheime Lehre: Die der „Up skirt“-Fotografie nämlich, die Sono als nationale Obsession und Artistik zugleich in Szene setzt – unter Ausnutzung aller Freiheiten, die ihm die digitale Kamera lässt. Yu bekommt also eine Ausbildung in einer mehr sublimen denn martialischen Kunst und dank schlummernde Talente eine höhere Bestimmung gleich mit: Er wird zum König der Perversen, der „hentais“, und erhält sich doch insgeheim sein reines Herz. Der Zuschauer glaubt ihm (wie er wundernswerter Weise allen Figuren ihr Tun und Wollen glaubt), der Vater eher nicht. Er zürnt plangemäss, und entblösst in seinen Schlägen doch nur seine Liebe.

But wait, there’s much, much more! Ravels „Bolero“ etwa, der in Gesamtlänge halbstündig auf der Tonspur vor sich hin anschwillt, während ein weiteres Genre-Element zur Filmspur findet: Ein Wunder nämlich, das punktgenau ein Parallelmontagefeuerwerk beschliesst und das Orchesterstück zum grand finale anheizt: Yu trifft Yoko (Mitsushima Hikari), erkennt in der Punk-Christin seine Madonna, und kriegt seine erste, keusche Erektion. Damit nun stehen auch der Romanze Tür und Tor offen, und die Verwechslungskomödie fällt gleich mit ins Haus: Yu ist in diesem Moment verkleidet. Als Frau, einerseits, als inkarnierte Popkultur zum Anderen. Der erste, vermeintlich lesbische Kuss wird getauscht in Mantel und Hut Sasoris, jener Filmheldin, die sich bis heute zwischen Homo und Hetero, zwischen Arthouse und Trash, zwischen Feminismus und Exploitation nicht entscheiden mag. In diesem Moment, in dem der Film längst zur Opulenz angeschwollen ist, implodieren die Querbezüge vollends mit Aplomb – und jetzt erst läuft etwa nicht der Ab-, sondern der Vorspann. Mit einem Wort: Wahnsinn. Much, much more! Die äussere Uhr behauptet zu diesem Zeitpunkt irgendwas von 90 Minuten, die innere glaubt ihr kein Wort. Der Widerstreit der beiden wird den Erzählrhythmus etwas zur Ruhe bringen (niemals jedoch zum Erliegen), während wir Bekanntschaft machen mit Koike (Sakura Ando), einer anfangs enigmatischen, dann zunehmend mephistolphelischen Präsenz. Koike ist – wie viele andere in diesem Film – sozial geschädigt, aber märchenhaft unkaputtbar, und prädestiniert dazu, dem Bildhunger auch noch den Psychothriller, die Groteske, einige Gallonen Blut und ein Sekten- wie Krankenhausdrama einzuverleiben. Am Schluss werden wir für sie ebenso natürlich Sympathien empfinden wie für die heiligen Simpel Yu und Yoko, dann nämlich, wenn „Love Exposure“ die Grenzen zu Allem Möglichen längst gesprengt haben wird und unser Urteilsvermögen darüber, was Gehörig ist und Ungehörig, was Passend und Unpassend, was Misslungen und Gelungen, gleich mit dazu. Die äussere Uhr spricht dann von 228 Minuten. Die innere freilich hört ihr Ticken längst nicht mehr, das untergegangen ist unter einer Lawine von Ideen und dem andauerenden Ausruf der Verzückung (oder Verwirrung, ganz nach Façon): WAAAHNSINNNNN.

 

Dieser Text erschien ursprünglich auf nahaufnahmen.ch.

0 views0 comments

Recent Posts

See All
bottom of page