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  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Transparenzeffekte

Updated: Feb 16, 2021


SKIZZE Gedanken zu traditionellen koreanischen Wohnhäusern, der Durchlässigkeit von Papierwänden, und dem Begriff von Eigentum.

In Reiseführern ist gelegentlich zu lesen, man könne in Süd-Korea überall sein Portemonnaie offen auf dem Tisch liegen lassen ohne sich darum sorgen zu müssen, dass es abhanden kommen könnte. Das weckt zunächst nichts als Misstrauen, es klingt wie Positivrassismus, eine unwahrscheinliche Anekdote, die der Probe aufs Exempel kaum standhalten könnte.

Bis man eine Nacht in einem Hanok verbringt, einem traditionellen koreanischen Haus, und das Verständnis aus den Wänden, die keine Mauern sind, zu sickern beginnt. Es ist wie ein Netz von Halbwissen und vagen Zusammenhängen, das enger geknüpft und plötzlich zu dämmernder Erkenntis zusammengezurrt wird. Im Mittelpunkt – insofern ein derart weites Netz einen Mittelpunkt haben kann – all dessen ist der Raum, das Haus, die Wände, die Fenster, zwischen denen man sich wiederfindet. (Es ist, gewissermassen, erlebte Actor-Network-Theory).

Die Erkenntnis ist schlicht: Der Zweifel an der Portemonnaie-Anekdote entspringt derselben kulturellen Fremdheit, die man in dieser Architektur am eigenen Leib erfährt. Die Wände dieser selbst im grössten Reichtum noch flachen Gebäude (Luxus, selbst königlicher, zeigt sich hier in der Zahl der Häuser, die von Mauern schützend umschlossen werden, und nicht in einzelnen Bauten, die mit dem Himmel wetteifern) sind Barrieren zu so vielem, was unser 20. und 21. Jahrhundert ausmacht: Sie stellen sich vertikal gegen einen bis in die Paranoia, oder zumindest bis in ein sehr grundsätzliches Misstrauen gesteigerten Individualismus. Der Individualismus der castle doctrine, des stand your ground, der bei uns daheim seinen harmloseren Niederschlag findet im Traum vom Eigenheim und den weissen Zäunen, die ihn bekräftigen sollen… diese immer wieder bekräftigte Eigenart, Räume nie als geteilte planen zu wollen.

Doch das Hanok geht hinaus über die schlichte Idee, ein Gebäude auszurichten um Innenhöfe, die durch niedrige, gemeinsame Schwellen begrenzt werden. Die Unabgeschlossenheit (in mehrfacher Hinsicht: wo Wände mit einem Messer aufgeschlitzt werden könnte, sind Türschlosser weitgehend symbolisch) dieser Strukturen und, wiederum, der Wände, ist kaum vorstellbar für unser Denken, in dem zwischen Privatsphäre und Eigentum keine eigentliche Grenze steht. Hier jedoch läuft ein solches Denken auf Grund, das Klischee der „kollektivistischen asiatischen Gesellschaft“ wird zur Wahrheit in den Geräuschen, die durch diese Wände dringen und mehr noch im Licht, das nie völlig abgehalten wird. Die Familie, das Ganze Haus, als Gemeinschaft, vor der man wenig versteckt, da man Teil von ihr und sie Teil von einem ist. Und natürlich spürt man auch die Kehrseite: Die Kontrolle, die an diesen Wänden nicht Halt macht. Oder anders: man versteht, dass das unangetaste und unantastbare Portemonnaie immer eigentlich in einem Hanok liegt.

Doch eine Nacht in diesen Wänden lässt einen auch etwas anderes ahnen: Die Natürlichkeit der Vorstellung von Wolfmännern und Fuchsfrauen, von Kranichliebhabern und all der anderen Menschen, die sich in Tiere verwandeln, und umgekehrt. Denn in diesen Räumen träumend sind Wände nichts als eine durchlässige Membran, die alles und alle, innen wie aussen, zum Teil und zu Kreaturen der Nacht macht. Es gibt, es braucht keinen Schutz, keine Trennung, vor und von der Welt draussen und drinnen: Es gibt nur eine Welt, eine Welt der Dunkelheit, die durch die Papierfenster gefiltert nie völlig finster sein kann, eine Dunkelheit, der alles und alle angehören.

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