top of page
  • Writer's pictureChristof Zurschmitten

Vade Retro: Im Pilgerschrift durch Westeros

Updated: Feb 16, 2021


ESSAY/EXPERIMENT, in dem ich selbstzerstörerisch einen Abend lang im Pilgerschritt durch eine Minecraft-Umsetzung der Welt von Game of Thrones wandere.

Zwei Schritte nach vorn, ein Schritt zurück: Die Wallfahrt im so genannten „Pilgerschritt“ ist nicht nur eine meditative Übung in asketischer Zermürbung, sondern auch ein grenzmasochistisches Spiel. Ich habe mich entschieden mitzuspielen -- und im längsten Minecraft-Abend seines Lebens erfahren, warum vor der Losung „Vade Retro“ sogar Dämonen zurückschrecken.

Eine Pilgerreise im Pilgerschritt ist, wenn man so will, das perfideste Spiel des Mittelalters: umrissen durch klare Regeln (vorwärts, vorwärts, rückwärts), ein klares Ziel (Jerusalem, or bust!) und den denkbar deutlichsten win state: religiöse Ekstase oder Verrecken irgendwo am Wegesrand?

 

Die Vorstellung, dass tatsächlich jemand derart irrlichternd nach Rom, Santiago de Compostella oder auch nur Einsiedeln gelangt wäre, ist zwar populärer Humbug. In einer Zeit, in der der Glanz römischer Prachtstrassen von Dreck und Kot verschluckt worden war und Sicherheit höchstens in den engen Grenzen von Stadtmauern wartete, konnte ohnehin jeder zurückgelegte Kilometer in die Waagschale gegen die Sünde geworfen werden. Der sprichwörtliche Pilgerschritt hat, falls überhaupt, seinen Ursprung in kurzen Prozessionen oder Tänzen, nicht jedoch in der Wanderung in ferne Länder mit Muschelhut und Blasen in blutigen Schuhen, die noch fünfhundert Jahre auf die Erfindung des Wortes „ergonomisch“ warten mussten.

 

Eine Pilgerfahrt nach den Regeln dieses widernatürlichen Spiels wäre damals unsinnig gewesen, und unmöglich. Glücklicherweise gibt es heute ein Medium, das sich dem Unsinnigen und Unmöglichen verschrieben hat: Computerspiele erlauben es uns, die Grenzen unserer kränkelnden Körper hinter uns zu lassen. Sie ermöglichen es uns, radikalen Ernst mit dem Klischee zu machen und vorwärts, vorwärts, rückwärts unserem Ziel entgegen zu pilgern – wenn nicht der Erlösung, so zumindest einer Erfahrung.

 

Das Problem dabei: Auch wenn der Begriff „Walking Simulator“ unlängst Karriere gemacht hat, sind Spiele furchtbar schlecht darin, Wandern zu simulieren – sie denken Bewegung nicht in diskreten Schritten, sondern in einer fortgesetzten Bewegung. Wo nicht ein einzelner Schritt gemacht werden kann, etwa durch einen einzelnen Anschlag der „W“-Taste, da kann auch keine Wanderung im Pilgerschritt in Gang kommen. Nun gut - beschwerliche Reisevorbereitungen gehören zu einer Pilgerreise. Im Mittelalter verkauften Pilger ihren Grundbesitz verkaufen, um ihre Reise zu finanzieren, und der moderne Pilger muss laufen lernen. Ein fairer Tausch.

 

Der Lehrmeister heisst AutoHotkey, ein Programm, das alle grobschlächtigen Befehle in grazile Bewegungen übersetzt. Dieses Aussenbordhirn sagt dem tumben Körper, dass jeder Druck auf „W“ tatsächlich meint, dass die „W“-Taste eine halben Sekunde lang gedrückt gehalten wird, dann noch einmal, und gleich im Anschluss daran die „S“-Taste. Unelegant, torkelnd, aber funktional: Schritte werden gemacht, und es geht vorwärts (und zurück). Bleibt nur noch die Frage nach dem Ziel.

 

Gesucht wird eine Welt, die gross genug ist, um das gehemmte Vorankommen als Leiden zu empfinden. Eine Welt, deren Landmarken grossartig genug sind, dass der Wunsch, bei ihnen anzukommen, Stunden monotonen Weges aufwiegen kann. Die Antwort gibt: *Minecraft. Zwar gibt es keine *Minecraft-Welt mit Jerusalem in ihrem Herzen, aber es gibt eine, in der Herzen offen in Ausschnitten feilgeboten und pochend aus der Brust geschnitten werden: *Westeroscraft, die schwindelerregende Rekonstruktion von George R. R. Martins *Song of Ice and Fire-Schauplätzen. An heiligen Stätten sind diese unseligen Lande zwar arm, aber eine Reise von Dreadfort nach Winterfell erfüllt den Zweck: Weg von einer Festung, deren Bewohner sich als Banner einen gehäuteten Mann gewählt haben, immer westwärts, hin zu einem Schloss, das als letzte Bastion starrköpfigen Edelmutes in einer dekadenten Welt gilt. Gut genug für diesen Pilger, und diese Reise.

 

Das Erste, was Ankömmlinge in Dreadfort zu sehen bekommen, ist ein Richtblock samt Fleischerbeil und abgetrennten Köpfen. Der Wind weht ohrenbetäubend um eine verdrehte Ruine, die offenbar noch nicht vollständig errichtet wurden von den *Westeroscraft-Demiurgen. Nachdem ich mich von einer Zinne geworfen habe, um dieser verkehrten Ruine ohne erkennbare Ein- und Ausgänge zu entkommen, habe ich meine erste Begegnung am Wegesrand. Es ist mittlerweile Nacht geworden – im Mittelalter die Zeit der Wölfe und der Halsabschneider, die auf den Pilgerwegen einen Strom schutzloser Wanderer mit gefüllten Geldbeuteln nur abzuwarten brauchten. Die Gestalt scheint dieser Tradition zu folgen und deckt mich mit Pfeilen ein. Ich versuche, die Flucht anzutreten, aber werde zurückgeworfen, Mal um Mal. Mit dem Mut der Verzweiflung lerne ich, dass ich die Regeln beugen kann, indem ich mich seitwärts bewege, doch als ich derart kopflos nach links und rechts schlenkere, bemerke ich, wie sich eine grüne Gestalt dem Verfolger angeschlossen hat. Ich weiss: wenn sie zu mir aufschliesst, bin ich tot… im Pilgerschritt vor einem Suizidbomber wegzurennen – auch eine Definition von Angst.

 

Im Augenwinkel erkenne ich eine Brücke, die von der Festung wegführt, und halte darauf zu. Bogenschützen, Riesenspinnen und Creeper folgen mir. Doch ihre Pfeile prallen an mir ab, ihre Zündschnur zündet nicht. Vielleicht haben sie mich an meinen Pilgerinsignien erkannt und befolgen das Gebot, mich zu verschonen, vielleicht stehe ich unter göttlichem Schutz – unerheblich, die Verfolger haben sich gewandelt von einer Bedrohung zur Begleitung. Wir wandern voran, langsam, bis in unserem Rücken die Sonne aufgeht, und meine Begleiter in Flammen. Offensichtlich ist nicht jeder fürs Pilgern gemacht.

 

Der Flammentod ist ein vergleichsweise gnädiges Schicksal. Die Sache mit *Westeroscraft ist nämlich die, dass detailversessen alle Orte nachgebildet werden, die George R.R. Martin beschrieben hat. Die Sache mit der Literatur ist aber die, dass sie nur das zu beschreiben braucht, was für die Handlung relevant ist. Das Computerspiel hat diesen Luxus nicht, weshalb die Leerstellen zwischen den Landmarken von einem Algorithmus gefüllt werden, und Algorithmen fühlen keine Monotonie. Diesen Luxus habe ich nicht. Nach zwanzig Minuten Wandern beginnt jeder Schritt schwer zu fallen und die Minikarte, die mein unentschlossenes Vorwärtsstreben peinlich präzise dokumentiert, wird zur Zumutung.

 

Eine der bemerkenswertesten Karten Roms richtet sich an Pilger und besteht lediglich aus Wörtern auf einem Blatt Papier, die links und rechts einer vertikalen Achse angeordnet sind. Die Achse repräsentiert die Via Sacra, der entlang der Leser gehen muss, um jeweils links und rechts von ihm in der angegebenen Reihenfolge die Dinge zu sehen, deren Namen auf dem Papier stehen. Würde ich eine solche Karte meiner Pilgerreise zeichnen, würde sie ungefähr so aussehen:

Gras Gras Gras Gras Baum Gras Gras Gras

 

Die Nächte bringen Gesellschaft, aber keine Abwechslung. Bogenschützen, Creeper und Spinnen zischen und Grunzen hinter mir in einer Endlosschleife, die zermürbender wirkt als die ereignislosen Kilometer. Der Wunsch, sie zu Tode zu prügeln, stirbt in der unerträglichen Vorstellung, mich zu verirren und meinen Weg dadurch zu verlängern. Ich akzeptiere. Ich trage mein Kreuz. Und ich komme voran, irgendwie.

 

Die Strasse ist eine gottverdammte Lüge. Auf der Übersichtskarte von *Westeroscraft führt sie, klar erkennbar, von meinem Ausgangs- zu meinem Zielpunkt, doch um mich ist nur Landschaftsgerümpel. Und für einen Pilger wird in der Block-Welt von *Minecraft jede Unebenheit zu einer Stufe auf der Treppe in die Hölle: Einen Schritt Anlauf, einen Block hoch, und denselben Block wieder zurück, endlos. Ich kann mir nicht anders helfen: ich bewege mich in der hügeligen Landschaft wie ein Besoffener auf Glatteis, nehme Anlauf, wuchte ich mich hüpfend hoch, schwanke nach rechts oder links, und taste mich voran.

 

Nach vierzig Minuten Marsch ist Winterfell bedeutungslos geworden, ein fernes Echo. Ziele müssen kleiner werden, um überhaupt noch fassbar zu sein: der Punkt, an dem ich wieder die Strasse kreuze. Der Fluss, der die Hälfte des Weges markiert. Dieser Baum dort drüben. Der nächste Schritt. Und der nächste.

 

Ich höre Rauschen in der Ferne, ich möchte rennen, ich kann es nicht. Als endlich der Fluss kommt, und mit ihm die Hälfte des Weges, bringt er Verzweiflung: Die Brücke, die da sein müsste, und mit ihr die Strasse: es gibt sie nicht. Der Schatten eines Gedankens: Was, wenn es auch Winterfell nicht gibt? Doch ich muss weitermachen, muss auf die andere Seite. Ich nähere mich dem Fluss, im Kopf die unsinnige Vorstellung, dass ich vielleicht über das Wasser gehen kann, und sinke wie ein Stein.

 

Meine Reise endet nicht, wie die so vieler Pilger vor mir, am Grund eines Flusses. Ich habe das *Minecraft-Ertrinken durchgemacht, die erstickenden Geräusche, den Countdown und… nichts. Nichts kann mich umbringen. Ich bin weiter gegangen, ans andere Ufer, auf dem nichts anders war: Gräser, Bäume. Ich bin unterwegs, seit mehr als einer Stunde schon, und die Zeit wird bleiern. Vorwärts, vorwärts, rückwärts.

 

Der Himmel ist gigantisch, und mit ihm die Sonne. Ich hasse sie, und ich liebe sie: sie ist der schönste Anblick des Tages, der letzte Rest Einmaligkeit. Ich hasse sie, denn mit ihr kommt die Nacht, und die Erkenntnis, dass ich nicht weiter gekommen bin als bis hier. Die Sonne versinkt und ich frage mich: Gibt es keine Himmelsrichtung westlicher als Westen?

 

Trost der Mathematik: Ich wandere nicht mehr zu Orten, ich wandere zu Koordinaten: Winterfell = -1500. Die Zahlen über der Karte schrumpfen, langsam, aber unaufhaltsam, und mein Elend schrumpft mit: 1500. 1000. 500. Der Nullpunkt kommt und geht. Er fühlt sich nach nichts an, nicht einmal Triumph.

 

Die Strasse??? Sie existiert?! Wieso, wieso hier? Ich nehme sie, ich kann nicht anders, und ich komme voran, etwas schneller nur. Ich fühle mich betrogen um die Zeit, die ich in der Wildnis verschwendet habe.

 

Die Strasse ist schlimmer als die Wildnis. Es gibt nichts zu tun, ausser vorwärts zu gehen, dem ewig fernen Horizont entgegen. Ich schliesse die Augen, und beruhige mich… Im Geräusch der Schritte ist nicht vernehmbar, ob sie zurück oder nach vorne führen.

 

Ich würde den Creeper hinter mir als Todesboten nehmen, wenn es einen Tod gäbe. Ich würde willig jedes Gebäude als Winterfell missverstehen, wenn es Gebäude gäbe.

 

Die Koordinatenuhr zeigt -500, und ich bäume mich ein letztes Mal auf, ich bin der sohn des feuerhengstes, common and try to stop me, assholes!!!

 

Die leise Enttäuschung… auf einem Hügel, nach zweieinhalb Stunden Wanderung, 300 Koordinatenpunkte weg von Winterfell, und die Nacht bricht herein. Ich wollte am Tag ankommen, triumphal, den Glanz Winterfells im Auge. Die leise Hoffnung, dass es wenigstens Fackeln geben wird, die von Ferne zu sehen sind, Geräusche, Musik… doch ich höre nichts. Ich sehe: nichts.

 

Die verstörendste Geschichte in den Tausendundeine Nächten erzählt von Abdallah, einem bettelarmen Fischer, der eines Tages einen Meermann in seinem Netz findet und ihm das Leben schenkt. Nachdem die beiden Freunde geworden sind, lädt ihn der Meermann ein, sein Reich unter den Wellen zu besuchen. Abdallah willigt ein und erkundet die Wunder unter der Meeresoberfläche, bevor ihn das Heimweh bald zurück ans Land treibt. Als er zu seiner Familie gehen will, kann er sein Haus nicht mehr finden, ja nicht einmal die Häuser der nahen Stadt. Ein alter Mann am Strassenrand erklärt ihm, dass diese Stadt vor zig Jahren untergegangen sei, und längst niemand mehr hier lebe, ausser ihm. Abdallah versteht, dass mit jedem Tag, den er im Meer verbracht hat, Dutzende Jahre vergingen in der Welt, die er kannte, und rennt zurück zum Meer, doch seine Rufe verhallen ungehört. Abdallah ist angekommen, am richtigen Ort, und hat alle überlebt, die er kannte und liebte.

 

Winterfell. Winterfell ist nicht da. Nur ein Loch, wo mein Herz sein sollte. Nur ein Loch. Die Befürchtungen, an die ich nicht glauben wollte, um nicht zu verzweifeln, sie werden Gewissheit: Dass hier ist nicht das *Westeroscraft. Es ist lediglich ein Test-Server. Winterfell existiert hier nicht, hat nie existiert. Jeder Schritt war einer in den Irrtum, meine Pilgerreise eine ohne Ziel. Ich bin gebrochen, und endlich bereit, allen Regeln zu brechen, öffne die Entwickler-Konsole und tippe: warp/winterfell. Der Gott, den es nicht gibt, ignoriert meinen Wunsch und setzt mich aus über einem Ozean. Ich tue, was von mir erwartet wird, und tauche ab unter die Wellen. Vorwärts, vorwärts. Kein Zurück.

 

Dieser Essay erschien ursprünglich im WASD-Magazin.

14 views0 comments
bottom of page